„Liebes Tagebuch,
vor fast drei Monaten sperrten sie mich hier ein. Seitdem lebe ich auf dem Ettersberg.
Eines Sommermorgens, es müsste der 30. gewesen sein, klingelten die Nazis an unserer Tür zuhause in Bochum. Sie nahmen uns alle mit, sogar Mama, die zu dem Zeitpunkt seit 3 Monaten schwanger war. Jeder hatte 10 Minuten Zeit sich eine Tasche mit den wichtigsten Habseligkeiten zu packen, dann wurden wir gezwungen zum Bahnhof zu gehen. Wohin sie uns bringen würden, sagten sie nicht.
Zwar war es früh, doch die ersten Menschen waren schon auf der Straße. Sie sahen uns entweder abfällig an oder ignorierten bewusst, wie die beauftragten Nazis uns schubsten und anknurrten, wir sollten gefälligst ihrem Tempo gerecht werden.
Später wurden wir mit hunderten anderen Menschen in einen Zug gesteckt. Mama und Opa wurden zu einem anderen Zug geführt. Zeit zur Verabschiedung blieb keine. Als ich Mama umarmen wollte riss ein Beamter uns grob auseinander und versetzte mir einen Stoß in den Nacken, sodass mein oberster Nackenwirbel laut knackte und dann raussprang.
Der Zug war überfüllt. Es war inzwischen Mittag geworden und die Sonne stand hoch am Himmel und brannte heiß. Man spürte nicht nur wie einem sein eigener Schweiß unangenehm den Rücken hinunterlief, sondern auch den Schweiß jeder seiner Nachbarn, die unmittelbar um einen herum standen. Ich hatte meine Armbanduhr zuhause gelassen, aber ich schätze, die Fahrt dauerte ungefähr 5 Stunden. Ich war durstig, doch Wasser stand nicht zu Verfügung. Viele Frauen und Männer fielen durch die Hitze und den unangenehmen Gestank in Ohnmacht. Ein älterer Herr starb schon im Zug an einem Herzinfarkt. Ihn sterben zu sehen traf mich damals sehr, heute bin ich den Anblick schlimmeren Leides mehr als gewöhnt.
Zum jetzigen Zeitpunkt frage ich mich, was schlimmer war, die drückende, feuchte Hitze, die ich auf der Zugfahrt und im ersten Monat nach meiner Ankunft erfuhr, oder der beißend kalte Wind, der heutzutage in den Wintermonaten stetig über das große, von Bäumen befreite Feld des Konzentrationslagers pfeift.
Nach unserer Ankunft am Bahnhof in Weimar wurde ich mit schätzungsweise 600 weiteren, Häftlingen’, wie die Kommandanten uns zu nennen pflegten, in flottem Trab auf den Ettersberg geschleust. Lief ein Häftling zu langsam oder stolperte er, traf ihn ein heftiger Schlag eines mit Knebel bewaffneten SS Beauftragten auf den Kopf oder in den Nacken. Meinen Bruder und Vater hatte ich auf dem Hinweg aus den Augen verloren.
Später traf ich sie im Lager wieder. Beide sind, wie ich, mit einem blau-weiß gestreiften Anzug ausgestattet worden, auf denen ihre roten Winkel angenäht wurden. Unsere Taschen, die wir zuhause mit den wichtigsten Habseligkeiten gepackt hatten, mussten wir abgeben. Haare haben wir alle drei nicht mehr auf dem Kopf und nur mein Vater erhielt ein paar Holzpantinen. Mein Bruder und ich laufen Barfuß. Ich bin froh, dass ich dich noch behalten durfte, mein Tagebuch.
Seit ich auf dem Ettersberg angekommen bin, habe ich unterschiedliche Aufgaben erhalten. Zunächst musste ich den Wald roden. Eine stumpfe Säge wurde jedem Insassen gegeben um die Bäume umzulegen. Hatte man einen Baum nach langem, mühsamen hobeln erfolgreich gefällt, musste man ihn eigenhändig abtransportieren.
Als die meisten Bäume gefällt waren, wurde ich dazu eingeteilt, Kanalisation und Strom zu legen. Andere Häftlinge arbeiteten an weiteren Holzbaracken. In diesen einfachen Hütten stehen meistens fünfstöckige Betten, die aus einfachen Holzgestellen bestehen und somit eher Bücherregalen als Betten ähneln. Die Baracken sind überfüllt und man kann sich im Schlaf, wenn man denn mal schläft, nicht bewegen. Möchte sich einer im Bett herumdrehen, müssen die weitern zehn, die mit ihm das Bett teilen, sich auch herumdrehen.
Nach harter Arbeit beißt mich der Hunger, doch zu essen gibt es wenig. Ich, der ich doch immer ein kräftiger Junge gewesen bin, bestehe, wie die meisten anderen hier, nur noch aus Haut und Knochen.
Während man arbeitet hat man stets den Schriftzug „Jedem das Seine“ im Blick, der im Haupttor des Lagers eingelassen ist. Schon oft machte ich mir Gedanken über die Bedeutung dieses Satzes, doch zu einer aufschlussreichen Erklärung kam ich bislang nicht. Warum bin ich hier eingesperrt, wenn sie die Absicht haben, jedem das Seine zu geben?
Bis bald,
Benjamin“
Der Text wurde geschrieben von Hannah Heuser.